Liebe Kolleginnen und Kollegen

Es ist schön endlich hier zu stehen– vor allem, nachdem ich vorletztes und letztes Jahr schon hätte in Olten sein wollen am 1. Mai. Wie bei so vielem hat uns die Pandemie auch hier einen Strich durch die Rechnung gemacht. Live Stream auf dem Compi ist ja gut und recht – aber das Zusammenkommen, das gemeinsame Einstehen für eine bessere, solidarische Welt kann uns auch ein noch so gelungener Stream ersetzen.

Und der Einsatz für eine bessere Welt ist dringend nötig. Putins Krieg gegen die Ukraine und ihre Bewohnerinnen führt uns dies gerade besonders drastisch vor Augen. Die unsägliche Aggression macht uns fassungslos. Auch deshalb ist in Europa die Solidarität mit der Ukraine und den Kriegsopfern so stark. Das Bedürfnis zu helfen ist gross. Der Bundesrat hat zum ersten Mal den Schutzstatus S aktiviert, damit geflüchtete Menschen hier rasch eine sichere Unterkunft und möglichst auch einen Job finden können. Zum ersten Mal seit langem hat die Schweiz Platz und Mittel, damit Menschen in Not hier ein Daheim finden – wenn auch nur vorübergehend. Dies auch dank der Solidarität unzähliger Privatpersonen, die ihr Zuhause mit Geflüchteten teilen oder Geld- und Sachspenden leisten. Ich wünsche mir, dass wir diese Solidarität beibehalten und dass Menschen auf der Suche nach Schutz und Sicherheit diese hier bei uns finden. Unabhängig davon, ob sie aus der Ukraine, aus Jemen, Syrien oder Afghanistan kommen.

Doch leider hört Solidarität in der Politik bald auf, wenn es ums Geld geht: Der Ansatz der Asylsozialhilfe, der auch für die Ukrainerinnen und Ukrainer gilt, ist viel zu tief für ein Leben in Würde. Und wenn es nach dem Bundesrat geht, sollen neu auch Menschen aus Drittstaaten in ihren ersten drei Jahren in der Schweiz mit weniger auskommen, als sie für ein gutes Leben brauchen. Wer in die Schweiz kommt auf der Suche nach Schutz und Sicherheit, soll hier mehr als nur überleben können, sondern ein Daheim finden. Dafür müssen wir uns einsetzen.

Bevor der Krieg in der Ukraine unsere Gewissheiten durchgeschüttelt hat, hat schon die Covid-Pandemie während zwei Jahren viel Vorarbeit geleistet. Das Virus hat die Welt verändert – und nicht zum Besseren. Am Anfang hiess es, vor der Krankheit seien alle gleich. Falsch: Die Pandemie hat die Ungleichheit weltweit massiv verschärft. Die Reichen haben noch mehr Reichtum angehäuft, Arme sind noch ärmer geworden.

Ja, auch in der Pandemie war die Schweiz – zumindest am Anfang – solidarisch: Studenten, die für Betagte einkaufen gegangen sind; Homeoffice-Privilegierte, die auf dem Balkon für das Pflegepersonal klatschten. Aber auch hier: Sobald es ums Geld ging, war für die bürgerliche Politik Schluss mit solidarisch. Anerkennung für die Menschen, die an vorderster Front die Pandemie bekämpften, gab es in Form eines Merci oder eines Kugelschreibers, doch auf bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne müssen viele von ihnen immer noch warten. Inzwischen sind die Heldinnen von damals erschöpft vom Ausnahmezustand, der seit 2020 anhält, viele von ihnen haben den Job aufgegeben.

Immerhin bei der Bevölkerung ist das Warnsignal angekommen: Sie hat im November mit 61 Prozent die Pflegeinitiative angenommen und sich so für eine bessere Gesundheitspolitik ausgesprochen. Nun muss die Politik diese schnell umsetzen und damit den Teufelskreis von Erschöpfung, Personalmangel und noch mehr Belastung für das verbliebene Personal durchbrechen.

Auch abgesehen vom Gesundheitswesen hat uns die Pandemie in den letzten zwei Jahre ein absurdes Ungleichgewicht vor Augen geführt. Die Arbeit vieler Frauen gilt zwar neuerdings als systemrelevant und ist oft (über-) lebensnotwendig: Was hätte die Schweiz gemacht ohne die Kinder-betreuerinnen, die während den Lockdowns versuchten, den Kindern in diesen ungewissen Zeiten ein Minimum an Sicherheit und Geborgenheit zu bieten? Ohne das Reinigungspersonal, das x Zusatzschichten arbeitete, um das Virus von möglichst allen Oberflächen wegzudesinfizieren? Ohne die vielen Frauen im Detailhandel, die dafür sorgten, dass wir ausser zeitweise auf eine grosse Toilettenpapierreserven auf nichts verzichten mussten?

Diese Menschen, die sich bei ihrer Arbeit selbst einem Ansteckungsrisiko – und oft auch Anfeindungen frustrierter Kund:innen – aussetzen mussten, waren der Schlüssel zur Bewältigung der Pandemie in der Schweiz. Und trotzdem bleibt ihre Arbeit unterbewertet und ist schlechter bezahlt als viele Berufe mit einer Männermehrheit. 58 Prozent der Stellen mit Löhnen unter 4000 Franken sind von Frauen besetzt. Bei den Stellen mit Löhnen über 16’000 Franken sind es bloss ein knappes Fünftel Frauen. Wir müssen uns deshalb dringend die Frage stellen, weshalb der Banker im sicheren Homeoffice so viel mehr verdiente als die Pflegefachfrau, die Covid-Patient:innen umlagern musste? Und ist die Arbeit des Gymnasiallehrers wirklich so viel wichtiger als diejenige der Kinderbetreuerin in der Kita? Ist grundsätzlich die Arbeit von Männern so viel mehr wert als diejenige von Frauen, dass eine Lohndifferenz von fast einem Fünftel gerechtfertigt ist?

Solidarität darf sich nicht auf Klatschen, Kugelschreiber und ab und zu ein Merci beschränken. Solidarität bedeutet, dass wir eine Diskussion darüber führen, welche Arbeit uns wichtig ist und wie wir sie gesellschaftlich organisieren und auch finanzieren. Denn Solidarität darf auch etwas kosten.

In der Schweiz gilt Care-Arbeit, die Betreuung von Kindern und anderen abhängigen Personen, immer noch viel zu oft als Privatsache. Die familien-ergänzende Kinderbetreuung wird deshalb „Fremdbetreuung“ geschimpft – als ob die Betreuerinnen für die Kinder Fremde statt liebevolle Bezugspersonen wären.

Weil bezahlbare Kita-Plätze fehlen, weichen Familien auf private Arrangements aus. In jeder dritten Familie sind dies Grosseltern. Wenn Grossapi seine Enkelin freiwillig hütet, ist das wunderbar für alle Beteiligten. Doch solche individuellen Lösungen entstehen viel zu oft aus der Not heraus: Die Alternative wäre, dass ein Elternteil, meist die Mutter, den Job aufgibt oder reduziert. Und sind eben auch krisenanfällig, wie uns die Coronapandemie ebenfalls gezeigt hat: Von einem Tag auf den anderen, fielen die Betreuungspersonen aus, weil die Enkel ein zu grosses Gesundheitsrisiko für sie waren. Und es waren die Mütter, die dann notfallmässig zu Hause blieben und die Kinder betreuten.

In einer typischen Schweizer Familie bringt eben nach wie vor der Mann den Grossteil des Gelds heim, während die Frau für Kinder, Schwiegereltern und Haushalt verantwortlich ist. Das hat schmerzhafte Konsequenzen: Sowohl im Erwerbsleben als auch nach der Pensionierung müssen die Frauen mit rund 40% weniger Geld auskommen als die Männer.

Damit Frauen nicht mehr auf wirtschaftliche Unabhängigkeit verzichten müssen, um sich um Familie und Haushalt zu kümmern, müssen wir die Betreuung von Kindern, alten und kranken Menschen endlich solidarisch organisieren. Wir müssen Care-Arbeit auf mehr Schultern verteilen. Betreuungsplätze für Kinder und Erwachsene gehören zum Service Public und müssen von der öffentlichen Hand bezahlt werden. Und die Schweiz kann und muss es sich leisten, dass nicht nur das Angebot, sondern auch die Arbeitsbedingungen und Löhne des Personals stimmen.

Die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) des Nationalrats hat am Freitag beschlossen, dass der Bund 10 – 20 % der Kosten für Kitas und Tagesschulen übernehmen muss. Das ist gut so, aber es reicht bei weitem noch nicht.

Deshalb habt der SGB am internationalen Frauentag mit der SP die Kita-Initiative lanciert: Sie sorgt für genügend gute Betreuungsplätze für alle unsere Kinder, auch für diejenigen, die mehr Betreuungsbedarf haben, zum Beispiel wegen einer Behinderung. Sie garantiert Löhne und Arbeitsbedingungen, die der grossen Verantwortung des Jobs auch gerecht werden. Und vor allem verlangt sie eine Finanzierung durch die öffentliche Hand, damit nur noch maximal ein Zehntel des Familieneinkommens in die familienergänzende Betreuung der Kinder fliesst. Kurz: Sie garantiert eine solidarische Organisation der Kinderbetreuung statt individueller Notlösungen.

Lasst uns zusammen einstehen für eine bessere und solidarische Welt, in der Menschen auf der Suche nach Schutz und Sicherheit diese ohne Wenn und Aber bekommen! In der Menschen, die überlebensnotwendige Arbeit leisten, Anerkennung und einen fairen Lohn bekommen! Und in der Care-Arbeit nicht unbezahlt oder unterbezahlt geleistet wird, sondern solidarisch organisiert ist!

Danke!