1. August-Rede im Stadtteil 6
Bisher war ich eine 1. Augustvermeiderin. Die letzten Jahre hatte ich den Nationalfeiertag nach Möglichkeit im Ausland verbracht. Zu laut, zu patriotisch, zu sehr eine Feier dessen, als was ich mich nicht fühle. […]
1. August 2017, Brünnenpark, Bethlehem
Bisher war ich eine 1. Augustvermeiderin. Die letzten Jahre hatte ich den Nationalfeiertag nach Möglichkeit im Ausland verbracht. Zu laut, zu patriotisch, zu sehr eine Feier dessen, als was ich mich nicht fühle. Dieses Jahr bin ich schon gestern heim gekommen, habe mich von Belgien, seinen süchtigmachenden Pommes Frites und seinem gefährlich guten Bier verabschiedet, damit ich den heutigen Abend hier mit Ihnen verbringen kann. Und keine Angst: Ich sehe Sie nicht als meine Untertanen, wie der Bund gestern schrieb, sondern als meine Gastgeberinnen.
Liebe Menschen von Bethlehem und Bümpliz, für diese Gastfreundschaft danke ich Ihnen von Herzen. Denn nach jahrelanger 1. August-Flucht gibt sie mir die Gelegenheit, mich damit auseinanderzusetzen, was es bedeutet, Schweizerin zu sein. Was bedeutet es für mich in einer Stadt wie Bern? Was heisst es in einem Quartier wie dem Stadtteil 6? Muss ich am Nationalfeiertag stolz darauf sein, Schweizerin zu sein? Ich denke nicht, denn ich habe nichts dazu beigetragen, dass ich vor 40 Jahren in Bern als Tochter eines Schweizer Ehepaars geboren worden bin. Aber ich finde, dass durchaus Dankbarkeit angebracht ist dafür, dass ich dieses Glück hatte. Es ermöglicht mir nicht nur ein gutes Leben in einer wunderbaren Stadt wie Bern. Nein, es gibt mir auch die Möglichkeit, mich als Politikerin für diese Stadt einzusetzen. Dies ist keine Selbstverständlichkeit, liebe Bümplizerinnen und Bethlehemer.
Vor fünfzig Jahren noch hatte meine Mutter diese Möglichkeit nicht – und vermutlich gibt es hier unter Ihnen viele Frauen, denen es gleich ging. Die froh sein konnten, wenn der Ehemann das Ausfüllen der Abstimmungsunterlagen mit ihnen besprach. Meine Mutter hatte übrigens später die Möglichkeit, ihr Mitsprachedefizit als Lokalpolitikerin im Emmental etwas wettzumachen.
Doch auch heute leben viele Menschen in Bern und prägen ihr Quartier, für die es keine Selbstverständlichkeit ist, auch politisch mitzureden. Die zwar zum Gelingen des Stadtlebens beitragen – sei es über ihre Steuern, sei es über freiwilliges Engagement, sei es über den freundlichen Gruss über die Strasse – die jedoch nur davon träumen können, mitzubestimmen, wo in Bern gebaut wird und wie viel Geld in die Bildung ihrer Kinder fliesst.
Nein, ich bin nicht stolz darauf, Schweizerin oder Bernerin zu sein – ich bin aber stolz auf Bern, das 2010 anders als der Kanton die Initiative „zäme läbe – zäme stimme“ annahm. Meine Stadt wäre bereit gewesen, Menschen, die hier leben, auch mitreden zu lassen – unabhängig von ihrer Herkunft. Wer in Bern lebt, soll auch zum Stadtleben beitragen können, soll seine Heimat mitgestalten. Denn darum geht es letztlich: Wir leben zusammen, wir wollen unsere Welt gemeinsam prägen und weiterbringen. Die Unterscheidung, ob Schweizerin oder Ausländer ist dabei eine künstliche. Was zählt ist unsere Lebensrealität hier in Bern, hier in Bümpliz und Bethlehem.
Im Stadtteil 6 ist der Anteil derjenigen, die keine politische Mitsprache haben, fast eineinhalb Mal so hoch wie im Stadtberner Durchschnitt. Und trotzdem: Sie, liebe Einwohnerinnen und Einwohner von Bümpliz und Bethlehem, leben hier zusammen. Und soweit ich es wahrnehme, wollen Sie sich auf Augenhöhe begegnen. Auch wer keine politischen Rechte hat oder andere Wege als politische Mandate zur Mitsprache sucht, findet hier Möglichkeiten, sich einbringen. Ihre Quartierkommission, die QBB spielt dabei eine wichtige Rolle: Unter anderem über das Projekt MiAu-Q gibt sie den Menschen ohne Stimmrecht eine Stimme. Nächstes Mal am 27. August am Mikrofon Bern West, wo es unter anderem um die Partizipationsmotion gehen wird. Ich werde da sein und diese Stimmen hören.
Ich will diejenigen nicht vergessen, die die Schweiz und Bern nicht als Heimat gewählt haben. Die hier sind, weil sie keine sichere Heimat mehr haben. Auch sie gehören zur Stadt – Bern ist auch für sie eine Lebensrealität. Dass diese eine positive wird, liegt in unserer Verantwortung: Wie heissen wir die Menschen willkommen? Hören wir ihre Stimme und wie antworten wir ihnen? Sind wir bereit, unsere Chancen und unseren Wohlstand zu teilen?
Vor einem Jahr ist auf Druck der Bevölkerung der unterirdische, menschenunwürdige Asylbunker Hochfeld geschlossen worden. Und der Kanton wusste nichts Besseres zu tun, als die geflüchteten Menschen von dort in den Westen Berns zu bringen – in eine unterirdische Unterkunft ohne Tageslicht. Und natürlich haben sich auch hier Menschen für die Asylsuchenden eingesetzt: Ein Zusammenleben auf Augenhöhe verträgt es nicht, Menschen unterirdisch und ohne Tageslicht einzupferchen! Die Asylunterkunft Riedbach wird glücklicherweise per Ende August wieder geschlossen. Hoffentlich zugunsten von Möglichkeiten und Orten, wo wir geflüchtete Menschen richtig willkommen heissen können.
Vielleicht gerade weil Bümpliz am Rand von Bern liegt und wohl manchmal auch in der Stadtberner Politik etwas vergessen geht, hat es gelernt sich zu wehren und für seine Interessen starkzumachen. Neulich haben die BLS hinter verschlossenen Türen eine neue Werkstätte in Riedbach geplant. Vielleicht wären sie andernorts damit durchgekommen? Hier jedenfalls nicht: Der Stadtteil 6, seine Bevölkerung und seine Quartierkommission haben sich gewehrt, und es ist eine Diskussion in Gang gekommen, die Sie mitprägen. Sie bleiben dran und pochen auf ein korrektes raumplanerisches Verfahren. Denn hier wissen die Menschen: Eine Lösung, die gemeinsam erarbeitet wurde, ist immer besser, als eine, die hinter verschlossenen Türe ohne Einbezug der Betroffenen entstanden ist. Danke, dass Sie sich für solche Lösungen einsetzen.
Ich bin froh, in einer Demokratie zu leben, auch wenn die Frauen bis 1971 auf ihre Teilhabe daran warten mussten und viele Menschen bis heute vergeblich darauf warten. Aber besonders froh bin ich um die Menschen, die sich für ein Zusammenleben auf Augenhöhe einsetzen, Prozesse gemeinsam gestalten wollen und die Stimme erheben, gerade auch, wenn sie von der offiziellen Schweiz das Recht dazu nicht bekommen. In Berns Westen ist ein solches Zusammenleben Realität. Ich bin dankbar für das Glück Schweizerin zu sein. Wenn es in der Schweiz mehr Bümpliz Bethlehem gäbe, könnte ich auch stolz darauf sein.
Quartierkommission Bümpliz-Bethlehem