1. August 2018, Münsterplatz, Bern

Danke den Musikerinnen von Lily Horn is Born und der Moderatorin Sandra Künzi, die mit uns diese Bundesfeier gestalten. Und danke vor allem den Kindern von Kidswest, die uns unsere Heimat durch ihre Augen sehen lassen. Alle bis auf eines besitzen keinen Schweizer Pass. Trotzdem haben sie hier in Bern und ganz besonders im Projekt Kidswest eine Heimat gefunden. Der Schriftsteller Max Frisch hat gesagt: «Das Fremdeste, was man erleben kann,
ist das Eigene einmal von aussen gesehen.» Ich habe dies immer wieder auf meinen Reisen erlebt. Ich bin nicht nur wegen meinen komischen Haaren auf Gelächter gestossen, sondern eckte auch mit den mir vertrauten Verhaltensweisen an:  Nase putzen in der Öffentlichkeit geht in China gar nicht. Laute Gespräche im Pariser Restaurant –impossible.  Barfuss eine Wohnung in Granada betreten – ein Affront!  Solche Erfahrungen sind wertvoll und lassen uns Gewissheiten hinterfragen, die einer Weiterentwicklung oft im Wege stehen. Einer Weiterentwicklung, wie ich sie mir für meine Heimat wünsche. Vielleicht kann uns der Input von Kidswest gerade am heutigen Nationalfeiertag helfen, einen neuen Zugang zu unserer Heimat zu finden.
Denn ich muss gestehen, liebe Bernerinnen und Berner, liebe Besucherinnen, Touristen, liebe Gäste und Angekommene, der 1. August ist für mich eine Herausforderung. Die Auseinandersetzung mit der Heimat drängt sich auf und fällt meist nicht wie die Knallfrösche und anderen Kracher der Hitze zum Opfer. Und mir als Linker schien diese Auseinandersetzung immer etwas unbequem und anstrengend.
Dabei ist es durchaus spannend, sich mit „Heimat“ zu befassen. An der Expo 02 hatte ich Gelegenheit dazu dank meinem Studijob in der Ausstellung Heimatfabrik. Dort durfte ich zuschauen, wie aus Harnstoff, Aromat und weiteren Schweizer Eigenheiten über den Sommer eine Idee von Heimat wuchs, die mir gleichzeitig fremd und vertraut war. Letztes Jahr wurden verschiedene Menschen für eine Ausstellung im Lenzburger Stapferhaus befragt, was Heimat für sie bedeutet. Heimat ist den Befragten zufolge nicht nur ein geographischer Ort, sondern sehr viel mehr: Heimat ist Sprache, Menschen, Traditionen. Hierzu ein Zitat vom Schriftsteller Bernhard Schlink: „So sehr Heimat auf Orte bezogen ist, Geburts- und Kindheitsorte, Orte des Glücks, Orte, an denen man lebt, wohnt, arbeitet, Familie und Freunde hat – letztlich hat sie weder einen Ort, noch ist sie einer. Heimat ist Nichtort. Heimat ist Utopie“.
Ich weiss nicht, ob meine Heimat und vor allem mein Ideal von Heimat eine Utopie ist. Aber ich weiss, dass Heimat mir mehr bedeutet, als ich mir oft selber eingestehen will: Wenn ich wandernderweise oder auf dem Velo in den Bergen oder am Wasser unterwegs bin – wie auch diese Sommerferien – tut sich mir das Herz auf. Im Herbst freue ich mich auf die Fonduesaison und das gemütliche Zusammensein mit den Menschen, die mir wichtig sind. Ich wollte schon lange mal eine Tracht anziehen und habe heute Gelegenheit dazu. Ich jasse seit meiner Kindheit für mein Leben gern – ob auf dem Gornergrat oder am Titicacasee. Und ich freue mich nach jeder Auslandreise wieder heimzukommen, heim in meine grüne Heimatstadt, an die Aare oder auch nur auf meinen Balkon, von dem ich die Stadt überblicke. Vor allem bin ich enorm dankbar: Dankbar, dass ich hier in Sicherheit und Würde leben darf. Dankbar für die Chancen, die mir meine Heimat gibt: die Möglichkeit, das Leben zu leben, das ich mir ausgewählt habe, und meine Lebenswelt als Politikerin mitgestalten zu dürfen.
Aber wie Facebook sagen würde: Es ist kompliziert. Weil mir mein Heimatland oft fremd ist: Ich verstehe die allgegenwärtige Angst nicht, etwas zu verlieren, wenn wir mit jenen teilen, die weniger haben als wir. Den Umgang mit den Ressourcen der Erde, als gäbe es kein Morgen, und die gleichzeitige Abriegelung gegen alles Neue oder Fremde. Es stimmt nicht, dass wir zu wenig Geld und Platz haben, wie uns diejenigen, die am liebsten eine Mauer um das Land bauen würden, glauben machen wollen. Geld ist genug da, wir müssen nur dafür sorgen, dass es anders fliesst, so dass die weltweiten Ungleichheiten kleiner werden. Und ein bisschen zusammenrutschen können wir problemlos, damit auch Menschen, die nicht hier geboren sind, Platz haben. Wirklich knapp sind die natürlichen Ressourcen, nicht der Raum, in dem wir leben. Doch warum sollte es uns kümmern, wenn es uns – den meisten hier – doch so gut geht.
Heute ist Earth Overshoot Day, auf deutsch Welterschöpfungstag. Zwischen dem 1. Januar und heute haben wir Menschen weltweit so viele natürliche Ressourcen verbraucht, wie die Erde in einem Jahr regenerieren kann. Alles, was wir bis Ende Jahr noch verbrauchen, ist auf Pump von künftigen Generationen. Wir roden Wälder ab für das Sojakraftfutter unserer Fleischlieferanten, fischen die Meere leer und treiben die Temperaturen mit Ferienflügen und Kuhfürzen hoch.
Dass der Earth Overshoot Day ausgerechnet den Schweizer Nationalfeiertag trifft, ist aber Zufall. Denn die Schweiz lebt 2018 schon seit längerer Zeit auf Kosten anderer Länder und künftiger Generationen. Würden alle Menschen so viele Ressourcen verbrauchen wie wir Schweizerinnen und Schweizer, fiele der Welterschöpfungstag auf einen Tag im April. Vielleicht auf den Nationalfeiertag von Ali, Pela, Ahin, Ivana, Aryana und Aster aus Syrien, die heute mit Kidswest hier bei uns sind. Ich weiss nicht, ob sie am 17. April den Nationalfeiertag ihres Landes gefeiert haben, das sie mit ihren Familien verlassen mussten.
Es gibt viele Gründe, weshalb Menschen ihre Heimat verlassen müssen und auf der Suche nach Schutz, Sicherheit und Leben hierhin kommen. Sicher ist: Wir können uns nicht aus der Verantwortung stehlen. Wir exportieren Kriegsmaterial – trotz zunehmender Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Gut gejammert hat die Rüstungsindustrie! Wir brauchen weiter Ressourcen auf, obwohl wir damit grossen Schaden anrichten, nicht nur hier. Wir schädigen den ganzen Planeten, unser aller Heimatplanet, auf dem Menschen mit weniger Glück als wir sehr viel mehr unter Klimakatastrophen, Lebensmittel- und Wasserknappheit leiden.
Zum heutigen Nationalfeiertag wünsche ich mir deshalb eine Heimat, die mit nachhaltigem und verantwortungsvollem Wirtschaften dazu beiträgt, dass die Menschen weltweit sicher und in Würde leben können. Damit es künftig weniger Kriege und Not gibt, die Menschen zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Wir müssen diese Verantwortung übernehmen, denn viele Menschen haben keine Energie, keine Musse oder Ressourcen, um über Umweltschutz nachzudenken. Wir haben sie. Ich wünsche mir, dass nachhaltiges Leben in Bern und der Schweiz zur Selbstverständlichkeit wird.
Was wir heute schon tun können, ist, den Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, hier ein neues Daheim zu geben. Daheim ist man nicht bloss zu Gast und muss vorsichtig sein, damit man niemanden zur Last fällt. Man muss sich nicht anpassen, sondern darf seine Umgebung gestalten. Ich wünsche der Schweiz zum Nationalfeiertag, dass sie auch Menschen, die nicht hier geboren sind, Heimat ist. Dass wir ihnen nicht mit Ablehnung begegnen, sondern sie willkommen heissen und unsere Heimat durch ihre Augen neu kennen lernen. Lassen wir sie unsere gemeinsame Heimat mitgestalten und schaffen wir Bedingungen, dass sie teilnehmen können am sozialen Leben, als Menschen mit gleichem Anspruch auf die Grundrechte wie wir Einheimischen und Alteingesessenen. Das bedeutet auch, Menschen, die hier leben, politisch mitreden zu lassen. Die Kinder von Kidswest sollen, wenn sie erwachsen sind, ihre Lebenswelt genau so mitbestimmen können, wie ich als Tochter von Schweizer Eltern.
In meinem Heimatland ist all dies wohl tatsächlich erst eine Utopie. Doch sie hat sich bereits niedergeschlagen im neuen Text der Nationalhymne, den wir anschliessend gemeinsam singen werden. Und in Bern, meiner Heimatstadt, können solche Utopien vielleicht sogar etwas schneller Realität werden. Denn Bern hat sich Nachhaltigkeit auf die Fahne geschrieben und versucht, seine Wirtschaft rücksichtsvoller zu gestalten. Bern ist in der Städtekoalition gegen Rassismus. Neuerdings ist die Stadt auch Heimat für schutzsuchende Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Kriegsgebieten. Bern hat 2010 anders als der Kanton die Initiative „zäme läbe – zäme stimme“ angenommen, die das Ausländerstimmrecht auf kommunaler Ebene ermöglicht hätte. Meine Stadt würde Menschen, die hier leben, also auch mitreden lassen – unabhängig von ihrer Herkunft. Und meine Heimatstadt versucht Menschen ein Daheim zu sein, die ihre eigene Heimat verlassen mussten. Für diese Heimatstadt mitsamt aller Utopien setze ich mich gerne ein – als Stadtbewohnerin und als Politikerin.
Danke, wenn Sie mich dabei unterstützen.